Leseprobe: Einleitung: Die Frage stellen

Die Verfassung war mit mühseliger Arbeit und langen Auseinandersetzungen verbunden. Den ganzen Sommer über waren die Delegierten des Verfassungskonvents, in Kniebundhosen und ständig durchgeschwitzt, bei drückender Hitze und größter Geheimhaltung in Philadelphia zusammengekommen, die Fenster ihrer Versammlungshalle hatte man zum Schutz gegen Lauscher zugenagelt. Bis Mitte September hatten sie einen auf vier Seiten Pergament festgehaltenen Entwurf fertiggestellt. Sie gaben diesen Entwurf an Drucker weiter, die den Text seiner hochfliegenden Präambel setzten, beginnend mit einem riesigen W, das so scharf wie eine Vogelkralle daherkam:

Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die gemeinsame Verteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und die Segnungen der Freiheit für uns und unsere Nachkommen zu bewahren, setzen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika in Kraft.

Als der Sommer dem Herbst wich, wurde das freie Volk der Vereinigten Staaten, das die Verfassung als Beilage zu seinen Zeitungen und Almanachen vorfand, um eine Entscheidung gebeten, ob diese ratifi ziert werden sollte oder nicht, und das zu einer Jahreszeit, in der die Menschen das Heu bündelten, Getreide mahlten, Leder gerbten, Hymnen sangen und die Nähte der Wintermäntel des letzten Jahres für fülliger gewordene Mütter und Väter erweiterten und die Kleidersäume ausließen für Kinder, die gewachsen waren. Sie lasen dieses merkwürdige, ausgeklügelte Dokument und diskutierten über seinen Plan. Einige befürchteten, dass das neue System der Bundesregierung zu viel Macht einräume – dem Präsidenten, dem Kongress, dem Supreme Court oder allen dreien. Viele, wie etwa der 61-jährige George Mason aus Virginia, ein Delegierter, der seine Unterschrift verweigert hatte, wollten, dass die Verfassung auch eine Erklärung zu den Grundrechten enthielt, eine Bill of Rights. («Ein Gesetzentwurf könnte innerhalb von ein paar Stunden ausgearbeitet werden», hatte Mason den Konvent gebeten, ohne Erfolg.)
Andere beschwerten sich über diese oder jene Klausel, auch vor der Kommasetzung machte die Kritik nicht Halt. Dieses Dokument war keine leichte Lektüre. Einige Delegierte schlugen vor, es vollständig zu verwerfen und ganz von vorne anzufangen. «Kann nicht dieselbe Gewalt, die den letzten Konvent einberief, einen neuen ansetzen?», fragte ein Bürger. «Ist das Volk nicht immer noch sein eigener Herr?» Vieles von dem, was sie sagten, ist in Dokumenten festgehalten. «Die Anfangszeit der meisten Nationen ist in Schweigen gehüllt oder hinter Legenden verborgen», stellte James Madison einmal fest.
Nicht so die Vereinigten Staaten. Ihre Anfangszeit ist – wie die Zähne eines Kleinkindes in einem Einmachglas – in den vier Pergamentblättern der Verfassung aufbewahrt, auf den Seiten von Almanachen, die das Wetter einer längst vergangenen Zeit festhalten, und durch Hunderte von Zeitungen, in denen Aufsätze für und wider die neue politische Ordnung neben den Schiffsmeldungen, Versteigerungshinweisen und Aufforderungen zur Rückerstattung von Menschen erschienen, die niemals ihre eigenen Herren gewesen waren – Frauen und Kinder, Sklaven und Diener – und die in der Hoffnung weggelaufen waren  für sich selbst und ihre Nachkommen die Segnungen der Freiheit zu erlangen. (...)

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