Interview mit Zora del Buono zu Ihrem Roman "Seinetwegen"

„Es trifft mich, dass mein Vater sein Leben nicht leben konnte, so viel verpasst, so vieles nicht gesehen hat. Es tat mir immer leid für ihn. Aber ich vermisste ihn dennoch nicht.“ Im Gespräch mit Zora del Buono

Erst 33 Jahre war ihr Vater, als er bei einem Autounfall tödlich verunglückte, Sie selbst damals erst acht Monate alt. Was bleibt, war eine Leerstelle – für Ihre Mutter muss das eine Erschütterung gewesen sein, Sie selbst waren zu jung, um zu trauern. Wie haben Sie diese Leerstelle als Kind empfunden?

In erster Linie habe ich den Schmerz der Mutter gespürt – und versucht, ihn ihr zu nehmen. Ich wollte Mama glücklich sehen. Die Konsequenz war, dass wir nicht über den Vater gesprochen haben. Ein Irrtum, wie mir viele Jahre später klar wurde.

 

In „Seinetwegen“ machen Sie sich auf die Suche nach dem Mann, der Ihren Vater totgefahren hat. Warum?

Dass wir zuhause nie über den Mann gesprochen haben, der meinem Vater das Leben nahm, hat mich irgendwann irritiert. Jetzt, wo ich qua Demenz meiner Mutter nicht mehr mit ihr sprechen konnte, diese Lücke also nicht über ein Gespräch füllen konnte, war der Zeitpunkt gekommen, mich auf die Suche nach ihm zu machen. Es hat mit dem Älterwerden zu tun, auch ich fange an, auf das Leben zurückzublicken. Und es war auch einfach Neugier: Wie hat er eigentlich sein Leben verbracht? Was hat der Unfall mit ihm gemacht? 

 

Was wussten Sie als Kind über den Unfall und seinen Verursacher?

Es gab Schnipsel, die ich kannte. Ich wusste, dass er jung war, ein Draufgänger, einer, der mit alten Schlitten rumgerast ist. Jemand hatte mir gesagt, er sei betrunken gefahren, was aber nicht stimmt, wie ich bei der Recherche herausgefunden habe. Ich wusste immer nur, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit ein Fuhrwerk überholt hat und frontal in das Auto meines Onkels raste, in dem auch mein Vater saß. Ich wusste, dass Vater sofort gehirntot war, aber noch mehrere Tage im Spital lag.

 

Warum haben Sie gerade jetzt, man könnte auch sagen: erst jetzt angefangen, dieses Buch zu schreiben? Und nicht zu einem früheren Zeitpunkt Ihres Lebens?

Ganz ehrlich: Das frage ich mich auch. Wahrscheinlich musste ich erst die Geschichte der Großeltern schreiben (Die Marschallin), um mich an die Geschichte des Vaters heranzuwagen. Schritt für Schritt näherkommen. 

 

Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiß über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Was hat es mit Ihnen gemacht?

Eine gewisse Traurigkeit ausgelöst. Ein Schmerz darüber, dass ich dem Vater nie nahekommen werde. Aber das Mitgefühl, das ich für den Unfallverursacher empfinde, hat mich weicher werden lassen.

 

„Seinetwegen“ als Titel, das könnte sich auf zwei Männer beziehen: auf den der fehlt und um dessen Verlust sich im Leben ihrer Mutter vieles unausgesprochen dreht. Und auf den, der den Unfall verursacht hat. Welcher der beiden Männer interessiert Sie in Ihrem Buch mehr?

Natürlich war ich aufgeregt, als ich den Mann überhaupt gefunden habe. Es war wie ein kleiner Krimi, es hat sich immer mehr entblättert. Und ich dachte auch gleich als Autorin: Da kann ich die Leser und Leserinnen mitnehmen, sie gehen den Weg des Entdeckens mit mir. Aber irgendwann wurde mir klar: Zu viel wollte ich über E.T. auch nicht wissen, ich hätte die Recherche ja ewig weiter betreiben können. Aber da hätte ich mich meinem Vater gegenüber schuldig gefühlt. Mein Vater ist mehr eine private Entdeckung, durch die Sachen, die ich von ihm gefunden habe, ist er eine körperliche Person geworden, nicht nur eine abstrakte. Das hat etwas Beruhigendes.

 

„Seinetwegen“ erzählt Zeitgeschichte als Familiengeschichte: vom Aufwachsen in den Sechzigern, von einer Jugend in den Siebzigern, von der lesbischen Szene der Achtziger und frühen Neunziger, aber auch davon, was es fünfundzwanzig Jahre davor in der Schweizer Provinz hieß, ein Doppelleben zu führen. War das von Anfang an Ihr Plan oder hat es sich durch die Recherche so ergeben?

Nichts davon war mein Plan, die ganze Recherche war eine einzige Wundertüte, die mich immer in neue Gefilde geführt hat. Eins ergab das nächste, ein Zufall jagte den nächsten.

 

Zur Familiengeschichte gehören auch: Ihre italienischen Wurzeln. Ihr Vater war Italiener. Ein Medizinier in Zürich, der, so sagte man dir als Kind, ganz anders war als die Schweizer Männer der 1950er- und 1960er-Jahre. Wie nah ist Ihnen diese Mentalität, obwohl Sie Ihren Vater nicht kennengelernt haben?

Sehr nah. Mit allen Vorbehalten, die ich Italien gegenüber habe, das nicht Aufarbeiten der politischen Vergangenheit etc. Vieles an Italien ärgert mich, weil es eben mit mir zu tun hat. Aber es gibt eben auch diese Leichtigkeit, dieses Kontemplative des Südens, was ich mag und was zu mir gehört. 

 

Während die beteiligten Erwachsenen mit ihrer Schuld und den nach hinten gerichteten Konjunktiven leben müssen (Wären wir später losgefahren, hätte ich ein anderes Auto gehabt, …), lebt das Kind nach vorn, mit einer Leerstelle, die es als Normalität empfindet. Wie kann eine Lücke, wie kann jemand, der fehlt, ein Leben dennoch prägen?

Die Normalität der intakten Kleinfamilie war für mich immer etwas Irritierendes. Etwas, das ich nicht verstand. Ich war sehr stolz auf meine alleinstehende Mutter. Dass sie ihr ganzes Leben so toll geschafft hat, spät Abitur gemacht, spät studiert hat, sie war immer ein Vorbild darin, dass man das Leben allein schaffen kann.

 

„Seinetwegen“ ist für mich auch ein großartiger Dorfroman, denn die Suche führt tief in dörfliche Strukturen und führt vor, dass das Schweigen eine Gemeinschaft äußerlich zusammenhält, innerlich aber zersetzt. Er spielt in kleinen Schweizer Ortschaften, doch dieses Schweigen könnte auch in Bayern oder in der Lüneburger Heide geschwiegen werden. Was ist das für eine Welt, das Dörfliche?

Ich würde gerne einmal auf dem Dorf leben, um zu erfahren, wie das wirklich funktioniert dort mit all der sozialen Nähe, wie man sich abgrenzen kann etc. Es würde mich interessieren, aber vermutlich würde ich es nicht lange aushalten.

 

Sie haben mit „Seinetwegen“ eine ganz eigene Art autofiktionaler Literatur entwickelt, eine Mischung aus Reportage, Memoir und Tagebuch. Was ist autofiktionale Literatur für Sie und gibt es Autor:innen oder Werke, die Ihnen Maßstab waren?

Diese Art des Schreibens gibt es ja schon lange, nur nannte man das nicht so. Eine Entdeckung war für mich sicher Tove Ditlevsen mit ihrer Trilogie. Und prägend war für mich als junge Frau Max Frisch, auch seine Sprache. „Montauk“ ist ein ganz großes autofiktionales Werk. Und seine Tagebücher letztlich auch. Ganz groß.

 

Wie Max Frisch sind Sie Architektin. Wie unterscheidet sich die kreative Arbeit in beiden Berufen, was die Konstruktion einer Erzählung von der eines dreidimensionalen Raums?

Da ist erstmal das leere Blatt. Und da ist die Umgebung, auf die man reagieren muss. Gute Architektur geht auf das Umfeld ein, bedenkt es, baut es ein, auch wenn das vielleicht danach nicht auf den ersten Moment erkennbar ist. So ist das mit dem Schreiben auch. Wir sind immer nur Kinder unserer Zeit, nehmen das auf, was uns umgibt und geben ihm eine Form. Am Ende liegt da ein Buch. Oder steht eben ein Haus. 

 

Mit Zora del Buono sprach Dr. Susanne Krones, Programmleiterin C.H.Beck Literatur.


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