Er hat eine unverwechselbare literarische Stimme und wenn der Schauplatz seiner Romane auch oft genug Rumänien, das Land seiner Herkunft, ist, so sind seine Geschichten von Liebe, Migration, Unterdrückung, von Individualität und Resilienz doch zugleich universell, großes Welttheater und immer auch literarische Geschichtsschreibung. Der Schweizer Schriftsteller Catalin Dorian Florescu, u.a. ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis, ist ein geborener Erzähler, der in seinen Romanen in die ganze Fülle des menschlichen Lebens, der Wünsche und Sehnsüchte, aber auch der Abgründe und Verbrechen eintaucht. Mit Romanen wie „Zaira“, „Jacob beschließt zu lieben“, „Der Mann, der das Glück bringt“, „Der Feuerturm“ und Erzählungsbänden wie „Der Nabel der Welt“ hat er sich in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eingeschrieben als ein Autor, der immer aus dem Vollen schöpft und immer aufs Ganze geht.

1. Was haben Sie im Studium fürs Leben gelernt?
Ich habe Psychologie studiert. Nach einer ersten Beschäftigung mit der Psychoanalyse entdeckte ich die Humanistische Therapie und hier u.a. die Gestalttherapie. Das Menschenbild dieser Richtung hat mich stark geprägt: Bezogenheit, Ganzheitlichkeit des Erlebens (Verhalten, Gefühle, kognitive Annahmen), Gegenwärtigkeit, Verantwortung. Diese Begriffe definieren, glaube ich, jeden reifen Menschen.


2. Womit haben Sie Ihr erstes Geld verdient?
Ich war Nachtportier in einem Hotel oberhalb von Zürich, am Waldrand, mit einem großartigen Ausblick über den Zürichsee. Die Lichter der Stadt flackerten weit unten zu meinen Füßen und über der dunklen Fläche des Sees schwebten geräuschlos die Lichter eines Schiffes, das in den Hafen zurückfuhr. Hinter mir, auf dem Waldfriedhof, beim Rauschen der Bäume, schliefen ruhig James Joyce und Elias Canetti.


3. Was nehmen Sie sich immer wieder vor?
Nicht in Angst zu erstarren.
Ein besserer Mensch zu sein.
Zu fühlen.
Zu vergessen, aber ich bin so ungeübt darin.
Nicht zu stürzen (meine Beine sind meine Schwachstelle).
Mein Gewicht zu halten, da ich eine Liebesbeziehung mit Süßigkeiten habe.
Nicht zu flüchten.
Den nächsten Atemzug und einen weiteren wahren Gedanken.
Noch einige schöne Ecken dieser Welt zu sehen: Griechenland, Andalusien, eine Autoreise quer durch die USA.
Es nicht zu verpassen, wenn mir ein "schöner", aufrichtiger Mensch begegnet.


4. Ein großes „Beinahe“ in Ihrem Leben?
Es gibt zwei. Am Anfang meiner literarischen Karriere wurde ich mit meinem Romanmanuskript "Wunderzeit" dem Rowohlt Verlag empfohlen. Die Lektorin wollte es gerne annehmen, ihre Chefin hingegen – von der ich weder Gesicht noch Name kenne – nahm das Manuskript am Wochenende mit nach Hause und entschied anders. Sie hatte es quergelesen, wurde mir gesagt. So bestimmte ein – wer weiß, kaffeeschlürfender, gähnender, das Butterbrot mit Marmelade bestreichender – Mensch über den Beginn meiner Karriere als Schriftsteller. Über den Umweg eines kleinen Schweizer Verlages fand ich nach Jahren und zwei weiteren Romanen zu C.H.Beck. Bis dahin waren die Chancen gering gewesen, auf meine Literatur aufmerksam zu machen, der Kampf um Sichtbarkeit manchmal zermürbend. Wer weiß, wie es mir bei Rowohlt ergangen wäre: Vielleicht wäre mir das alles erspart geblieben, vielleicht wäre ich bald ausgebrannt gewesen, ausrangiert.

Und das zweite Beinahe: Mein Roman „Zaira“ wurde Elke Heidenreich zugeschickt, die ihn offenbar so sehr mochte, dass sie ihn in ihrer Fernsehsendung „Lesen“ vorstellen wollte. Nur dass ihr damaliger Studiogast so lange redete, bis sie keine Zeit mehr dafür hatte … So wurde es mir erzählt. Man stelle sich vor, es wäre anders gekommen …


5. Der beste Ort der Welt?
Für mich und meine Freundin liegt der beste Ort der Welt im Nordpiemont, über dem wenig bekannten Orta-See, dem kleinen Bruder des Lago Maggiore. Er steht auf der Hügelkuppe über einem der dortigen Dörfer, eine Villa mit einem wunderbaren Park, der Lebenstraum eines Schweizer Paares, dem sie seit 30 Jahren eine Gestalt geben. Mehrmals im Jahr tauchen wir in jene wohltuende Landschaft ein. Es ist der Ort, den ich, wenn es ihn nicht mehr gäbe – und eines Tages wird es leider so weit sein –, schmerzhaft vermissen würde.


6. Welche Eigenschaften schätzen Sie an einem Menschen am meisten?
Wenn er Interesse für andere und Empathie hat. Und wenn „Freundschaft“ nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern eine Gelegenheit seine Menschlichkeit und Tatkraft zu mobilisieren.


7. Welcher Illusion geben Sie sich gerne hin?
Dass ich niemals sterben werde.
Dass am Ende alles gut ausgeht.
Dass sich Qualität durchsetzt, wenn man lange genug kämpft.
Dass das Gute immer siegt.
Dass wir noch Zeit haben.
Dass ich der Schriftsteller bin, auf den die Welt gewartet hat.
Dass ich eine Ahnung habe, wovon ich spreche.
Dass es bedingungslose Liebe gibt.
Gott. Gott! Gott?
Dass mein Herz nicht in Trauer brechen wird.


8. Welche Zeitungen, Magazine und Blogs lesen Sie?
Ich lese täglich die Neue Zürcher Zeitung, die große Schweizer Qualitätszeitung, die einzige: konservativ-liberal, manchmal mit unerträglich rechtslastigem Unterton. Wenn man sich das aber immer vor Augen hält und sich davon nicht vereinnahmen lässt, ist die Lektüre ein großer Gewinn. Für die Ausgewogenheit aber lese ich auch die linke WOZ aus Zürich und die Monde Diplomatique.


9. Ihr Lieblingsmuseum?
Das Museum der Eitelkeiten und der Ängste … damit ich sehe, was mir alles entgeht. Und damit ich realisiere, dass ich in guter Gesellschaft bin.


10. Ein Buch, das Ihr Leben verändert hat?
Nicht verändert, aber doch stark beeindruckt und beeinflusst hat mich „Das Buch der      Unruhe“ von Fernando Pessoa. Eine berührende und ungemein poetische Erkundung existentieller Vereinzelung.


11. Welches Ihrer eigenen Bücher gefällt Ihnen am besten? 
„Wunderzeit-Der blinde Masseur-Zaira-Jacob beschließt zu lieben-Der Mann, der das Glück bringt-Der Feuerturm“: ein langer Titel für ein Werk von bestimmt 1.500 Seiten … das große Buch meines Lebens, jede Seite wertvoll. Ich schreibe daran seit über 20 Jahren.


12. Das beste Buch, das Sie im letzten Jahr gelesen haben?
„Früchte des Zorns“ von Steinbeck: ein Buch von biblischer Wucht, das sich durch seine sprachliche Urgewalt stark unterscheidet von so vielen sprachlich reizlosen Werken amerikanischer Literatur. Hier zeigt es sich, was Literatur zuerst definiert: Sprache. Dann erst der Plot. Erst wenn sich in der Sprache etwas ereignet, wenn sie erfüllt ist von einer gewissen Beseeltheit, kann man von großer, notwendiger Literatur sprechen. Ich habe noch nie ein Buch nur wegen des Plots gelesen.


13. Mit wem würden Sie gern für einen Tag den Platz tauschen?
Mit jemandem, der gesunde Beine hat. Da ich seit dem Alter von drei Jahren an einer Muskelschwäche leide und vieles nicht tun kann, was für andere normal ist, würde ich mich gerne einen Tag lang auf Beine verlassen können, die mich mühelos tragen. Von mir aus könnten es auch die Beine einer Ballerina sein.


14. Ihr größtes Talent?
Ich habe zwei: meine Fantasie. Ich kann ohne große Anstrengung Szenen entwerfen, Geschichten erfinden, die skurril, lustig, originell sind. Dann meine Empathie. Ich fühle stark mit den Schwachen, Kranken und Einsamen dieser Welt mit. Aus dieser Sicht sind meine Talente eigentlich Charakterzüge.


15. Was ist für Sie das größte Glück?
Mein Leben bis zum Schluss neben meiner Liebe, Svenja, verbringen zu können.


16. Was ist für Sie das größte Unglück?
Schmerz, physischer und seelischer. Im Film „El Viaje“ des Argentiniers Fernando Solanas sagt die Hauptfigur, die größte Sünde sei, nicht glücklich gewesen zu sein. Ich bin ganz ihrer Meinung.


17. Wenn Sie ein zweites Leben führen könnten, wie sähe dieses aus?
Ich wäre so leichtfüßig wie Gene Kelly und würde „Ein Amerikaner in Paris“ neu drehen … natürlich mit mir in der Hauptrolle. Ich wäre Tony in „West Side Story“ und würde Maria besingen. Ich wäre ein Boxer wie Marlon Brando in „Die Faust im Nacken“, aber im Gegensatz zu ihm hätte ich Erfolg. Ich würde Erdöl suchen wie Daniel Day-Lewis in „There will be blood“, aber ich würde niemals so enden wie er. Und ich wäre in allen Filmen von Fellini dabei, sei es auch nur als Statist, nur um von ihm zu lernen.