Preti Taneja ist vielseitig und engagiert, gebildet und radikal, sie hat als Journalistin und Menschenrechtsaktivistin gearbeitet, aber auch Kreatives Schreiben unterrichtet, sie ist Herausgeberin von VISUAL VERSE und dieses Jahr Jurorin des „Orwell Prize for Political Fiction“.
Ihr Debütroman, eine in die Gegenwart und in einen indischen Familienkonzern verlegte epische Version von William Shakespeares „König Lear“, ist ein grandioses, vielstimmiges Werk über Macht und Familie, Korruption und Geschlechterkampf, zärtlich und düster, sarkastisch und lyrisch, ein Danteskes Bild einer modernen Gesellschaft, die zugleich immer noch archaische Mythen, Regeln und Machtverhältnisse konserviert. Für „Wir, die wir jung sind“ erhielt sie den wichtigsten englischen Debütpreis, den „Desmond Elliot Award“. Preti Taneja, aus einer indischen Familie stammend und in Großbritannien geboren und aufgewachsen, gehört nicht nur zu den aufregendsten Autorinnen einer neuen, Englisch schreibenden Schriftstellerinnen-Generation, als Intellektuelle gilt sie in UK als eine der wichtigsten Denkerinnen unter 40, deren Ideen die Welt in den nächsten Jahrzehnten prägen werden.

1. Was haben Sie in Ihrem Studium fürs Leben gelernt?
Wie man liest. Einer Person oder einem Text nach ihrer und seiner eigenen Maßgabe Aufmerksamkeit zu schenken und sich auch der eigenen Grenzen bewusst zu sein, die aufgrund meine Erwartungen an sie zustande kommen. Geduld zu haben und mir von ihnen zeigen zu lassen, wie sie verstanden werden wollen. Und dass in vielen Fällen Poesie wirklich Widerstand ist, sie ist Trost. Man denkt, es klingt banal, so etwas zu sagen. Aber ich habe früh einen Elternteil verloren und habe mit Menschen gearbeitet, die unter einigen der schwierigsten Bedingungen auf der ganzen Welt leben müssen. Viele von ihnen sind ebenfalls Schreiber, Leser: Niemand kann diesen Impuls ersticken, auch wenn es vielleicht nie weiter reicht als bis zu einer Seite, die nur von dieser einen Person gelesen wird.
 

2. Wie haben Sie Ihr erstes eigenes Geld verdient?
Ich habe Nachtschichten gemacht und für Websites die News hochgeladen. Ich habe die Mentalität einer Nachteule entwickelt und einsame Leute beobachtet, die auf dunklen Straßen zur Arbeit gingen, während ich eigentlich die Hintergrundgeschichten mit gegenwärtigen Ereignissen verlinken sollte. Aus der Zeit hege ich eine nerdige Liebe zum Programmieren. Das ist eine besondere Form der Kreativität. Ich mag es, die organisierende Struktur hinter dem, was wir sehen, zu verstehen.

 

3. Was ist für Sie ein guter Tag in Ihrem Leben?
Als Kind bin ich immer früh aufgestanden und habe zwischen 5:00 und 8:00 morgens für Mathe und Naturwissenschaften gelernt, bevor ich dann zur Schule gehen musste. Ich habe gelernt, die frühen Morgenstunden zu schätzen. Ich liebe es nach wie vor, zum Schreiben sehr früh aufzustehen, bevor alle anderen aufwachen. Ein guter Tag hat für mich diese Art von konzentrierter Arbeit. Ein Spaziergang (vor allem in einer Großstadt). Sex. Ohne das ist es kein Leben. Und ein wirklich gutes, einfach zubereitetes Essen.

 

4. Was beschließen Sie, immer wieder zu tun?
Ich möchte eine immer noch bessere Freundin sein. Es ist es wert, diesen Versuch ein paar Mal im Jahr zu unternehmen. Die Dinge entgleiten einem, wissen Sie?

 

5. Was können Sie nur mit Humor ertragen?
Männer, die mir die Welt erklären.

 

6. Ein großes „Beinahe“ in Ihrem Leben?
Wir, die wir jung sind“ ist beinahe nicht veröffentlicht worden. Ich wäre beinahe keine (publizierte) Autorin geworden. Aber dann ist es doch geschehen. Obwohl meine erste Liebe die Literatur war, hat es gedauert, bis ich meine eigene Stimme gefunden habe. Zunächst habe ich gedacht, ich werde Auslandskorrespondentin. Aber meine Mutter wurde krank und als ich 22 war, kehrte ich nach Hause zurück, um sie zusammen mit meiner Familie zu versorgen. Sie starb, als ich 28 war, und danach konnte ich nicht wieder in den Journalismus zurückkehren. Stattdessen nahm ich eine Stelle als Redakteurin und Autorin für eine NGO an und arbeitete über Themen im Zusammenhang mit den Rechten von Minderheiten, beschäftigte mich mit der Flüchtlingskrise im Irak und anderen Themen. Es erfüllte einen Zweck, aber schließlich sah ich ein, dass die Sehnsucht, Literatur zu schreiben, mich nie verlassen würde. Mit 33 habe ich meine Stelle aufgegeben und die erste Fassung meines Romans geschrieben. Das dauerte drei Jahre, einschließlich der Zeit für Recherchen in New Delhi und Kaschmir. Der Roman wurde zuerst 2013 angeboten und es dauerte bis 2016, einen britischen Verleger zu finden; da hatte ich fast schon aufgegeben. Alles, was seither passiert ist, kommt mir vor wie eine Korrektur jener vorangegangenen Jahre. Vorher wurde ich auf einem Pfad, der zu einer Klippe führt, heruntergejagt, jetzt geht es den Berg hoch zum nächsten Plateau.

 

7. Der beste Ort, der beste Platz in der Stadt, in der Sie leben?
Ich halte mich eher für einen Stadtmenschen und in Städten einfach zu flanieren ohne ein bestimmtes Ziel gibt mir ein großes Gefühl der Befreiung. Der menschliche Eifer bezaubert mich, selbst wenn ich gegen Machtmissbrauch und Ausbeutung schreibe. Ich hege außerdem tiefe Gefühle für die wilde Landschaft in Northumberland und die Nordostküste des UK. Sie ist zum Staunen und wunderschön; eine Gegend, die ich mit Liebe verknüpfe. Ich habe dort am Strand gestanden und habe gegen das Meer angeschrien, bei beinahe jedem Höhe- oder Tiefpunkt in den letzten fünf Jahren.

 

8. Welche Künstler beeindrucken Sie?
Amrita Sher-Gil ist die malende Heilige der gemischt-indischen Frauen. Sie war Punjabi-Ungarin, eine Modernistin, die ihren ganz eigenen Stil entwickelt hat. Ihr als junge Frau zu begegnen hat mich tief berührt und großen Eindruck hinterlassen. Ihr Akt mit dem Skorpionstuch; ihr üppiges, lachendes Selbstporträt; ihre Darstellung des direkten, weiblichen Blicks. In diesen Tagen wirkt ihr Werk wie ein Talisman zusammen mit dem von Anthony Caro, dem britischen Bildhauer. Sein Umgang mit dem Material schenkte mir eine visuelle Metapher für mein Schreiben. Die Morgenröte kann robust sein, aus Metall, zusammengeschweißt.

 

9. Welches sind die Eigenschaften, die Sie an Menschen am meisten schätzen?
Zuhören zu können, eine Leidenschaft für Verbindungen zu haben. Ein Sinn für trockenen Humor und für das Absurde. Jemand, der spontan tanzen kann. Ein Bewusstsein dafür, dass man privilegiert ist. Die Weigerung, Menschen zu manipulieren oder in die Fallen zu gehen, die einem das Patriarchat oder der Kapitalismus stellen: Angst, Neid, Unsicherheit, die sich als Hass auf „andere“ maskiert. Ein Gefühl der Furchtlosigkeit bei einem Künstler ist sehr fesselnd. Es zieht mich an. Es ist etwas, um das ich mich auch bemühe.

 

10. Ihr Lieblingsthema für Small Talk?
Alles, was irgendwie mit Sprache zu tun hat: Jeder kennt unübersetzbare Wörter, vergessene Regionalismen aus der Kindheit, verloren gegangene Ausdrücke für Alltägliches. Die Hintergrundgeschichten der Leute, in ihrer eigenen Sprache erzählt, das ist es, was ich suche. Ich möchte die seltsamen, sozusagen zwischen-sprachlichen Verbindungen zwischen den Menschen, zwischen uns, entdecken.

 

11. Welche Illusion pflegen Sie besonders?
Wir können den Brexit stoppen und den Aufstieg des Faschismus in der Welt wieder umkehren. Ich werde nicht aufhören daran zu glauben.
 

12. Welche Zeitungen, Zeitschriften und Blogs lesen Sie??
Ich habe ein paar Blogs und Webseiten über Orte abonniert, die mich besonders interessieren oder über die ich arbeite: Kaschmir Life, Balkan Insight. Ich lese den Atlantic. Was Bücher anbelangt, bin ich wählerisch. Die LA Review of Books, die New York Review of Books und London Review of Books. Die Interviews mit Schriftstellern im Paris Review. Ich lese eine Menge übersetzte Bücher, also Asymptote Journal und Words Without Borders. Ich suche im Besonderen an all diesen Orten nach interessanten kritischen Werken von Autorinnen, besonders farbigen Autorinnen (female writers of colour). In Indien mag ich Scroll. Ich habe eine Neigung, tiefgehende Kritik oder authentische Stimmen Listen oder persönlichen Essays vorzuziehen, die so schwer richtig zu formulieren sind; ich bewundere jeden, der das wirklich kann. Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit ist das Modell für mich, was Journalisten mit der Macht, die sie haben, erreichen können: das Vertrauen, was normale Menschen in sie setzen.
 

13. Ihr Lieblingsbuchladen?
Busboys and Poets in Washington D.C. ist ein Laden, den ich sehr liebe. Der Traum einer Aktivistin, mit einer Bar und einem Café und regelmäßigen Lesungen und Poetry Slams. Zwei weitere amerikanische Lieblingsbuchläden sind Elliot Bay Books in Seattle und City Lights in San Francisco. Ich lebe nicht in London, ich verbringe daher, wenn ich dort bin, eine Menge Zeit bei Waterstone’s Picadilly wo die Mitarbeiter auf den fünf Stockwerken wirklich sehr informiert sind. Und in Burley Fisher Books, einem unabhängigen Buchladen im East End, die haben eine feine, radikale Sensibilität und sehr viel Platz zum Lesen. Mein Liebling, wie ich zugeben muss: Shakespeare and Company. Ich habe dort im Dezember 2017 „Wir, die wir jung sind“ vorgestellt. Ich werde nie das Erlebnis vergessen, wie es war, nach der Lesung in der Wohnung darüber bis spät in die Nacht auf zu bleiben, zu lesen, was da auf den Regalen stand und Wein zu trinken. Natürlich war es ein ganz besonderer Auftritt für mich, aber jenseits davon war mir bewusst, dass ich mich in eine Tradition einreihte, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Es war sehr aufregend! 

 

14. Ihr Lieblingsmuseum?
Ich möchte erstmal ein paar Kunstmuseen nennen: das Centre Georges-Pompidou in Paris, die Tate Modern in London und die National Gallery of Modern Art in New Delhi haben wunderbare Dauerausstellungen. Ich besuche sie, wann immer ich Zeit dazu habe. Verschiedene europäische Städte haben unglaubliche kleinere Kunstmuseen, die einige der aufregendsten und avanciertesten Arbeiten ausstellen, die es gibt. Das Baltic in Newcastle und das Institute of Modern Art in Middlesborough sind zwei meiner Favoriten; sie legen einen unglaublichen Ethos und ein riesiges Engagement für ihre Community an den Tag. In Frankreich die Lambert Collection in Avignon und das Guggenheim in Bilbao – ich bin dort jeweils erst einmal gewesen, aber ich weiß noch, wie sehr sie mich beeindruckt haben.

 

15. Welchen Satz haben Sie sich zuletzt aus einem Buch notiert?
Aus Natalia Ginzburgs „Die kleinen Tugenden“:

„… poetische Schönheit ist eine Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Stolz, Ironie, körperlicher Zärtlichkeit, aus Vorstellungskraft und Erinnerung, aus Klarheit und Dunkelheit – und wenn wir diese Dinge nicht alle zusammenbringen, bleibt uns nur etwas Dürftiges, Unzuverlässiges, das kaum lebensfähig ist.“

Ich möchte leben.

 

16. Welches Buch würde man in Ihrer Bibliothek nicht vermuten?
Wahrscheinlich mein geliebtes, sehr verschlissenes Exemplar von Philip Larkins Gedichtsammlung „The Whitsun Weddings“. Ich habe es immer auf Reisen dabei gehabt, bis es zu ramponiert dafür war. Es erinnert mich daran, dass ich nicht einer besonderen, englischen Form der Nostalgie erliegen darf und nie die Einstellungen vergessen sollte, die das Land in den Jahrzehnten vor meiner Geburt geprägt haben; wie Liebe, aber ohne Mitleid in seinen zwingenden Versen. „Keine Hunde, keine Inder.“ Ich sehe ihn vor mir, wie er das in einem Gedicht evoziert. Syntaktische Gewalt ist in großartiger Literatur besonders wirkungsvoll. Larkin mochte außerdem Wortspiele und ich bin auch nicht immun gegen sie.

 

17. Ein Buch, das Ihr Leben verändert hat?
Wir, die wir jung sind“ macht einstweilen, was das anbelangt, viel Freude. Claudia RankinesCitizen“ ist derzeit mein Gebetsbuch.
 

 

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