Interview mit Victor Lodato zu seinem Roman "Honey"

„Denke ich an meine Kindheit zurück, sind es die Frauen, die ins Licht treten. Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht eine Hommage an diese Frauen.“

Sie haben als relativ junger Mann einen Roman nicht nur über, sondern sogar aus der Perspektive einer hochaltrigen Protagonistin geschrieben. Wie ist Ihnen das gelungen, so tief in eine so andere Lebenswelt zu einzutauchen? Es ist beeindruckend, wie Honey Gestalt annimmt: ihr Charakter, ihr Umgang mit ihrem Körper, ihr scharfer Humor, ihr Bewusstsein für Mode, ihre ganz eigene Interpretation der Welt.

Die Figur der Honey ist von einigen der älteren, mächtigen und charismatischen Frauen inspiriert, die ich in meinem Leben gekannt habe, einschließlich der Frauen, die mich großgezogen haben. Ich habe das Gefühl, diese Frauen in meinem Körper zu wissen. Die längste Zeit meiner Kindheit waren Frauen meine wichtigsten Vorbilder. In meiner Literatur, sowohl in meinen Romanen als auch in meinen Theaterstücken, tendiere ich dazu, weibliche Hauptfiguren zu wählen. Ich betrachte mich als genderfluid, weibliche Energie zu verkörpern fällt mir nicht schwer. Als ich aufwuchs, waren die Männer um mich herum diese murmelnden, gefährlichen Schatten. Denke ich an meine Kindheit zurück, sind es die Frauen, die ins Licht treten. Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht eine Hommage an diese Frauen.


Wie sind Sie auf die Idee zu Honeys Geschichte gekommen?

Die Figur der Honey hatte einen kurzen Auftritt in meinem letzten Roman „Edgar und Lucy“.  Als ich mit dem Buch fertig war, konnte ich nicht aufhören, an Honey zu denken; ihre Stimme blieb mir im Ohr.  Sie hörte buchstäblich nicht auf zu erzählen und mir wurde schnell klar, dass sie ein eigenes Buch brauchte.


Viele deutschsprachige Leserinnen und Leser wird der Roman zum ersten Mal ins italo-amerikanische Mafiamilieu führen. Was ist das für ein Ort bzw. was war es für einer für die junge Honey?

Honey wuchs in einer Welt voller toxischer Männlichkeit auf, umgeben von Tyrannen. Um zu überleben, musste sie fliehen. Wie Honey zog ich als Teenager von meiner Familie weg und ebenfalls wie Honey reagierte ich auf die Brutalität meiner Jugendjahre, indem ich mich in die Welt der Kunst stürzte – im Bestreben, dem Chaos einen Sinn abzugewinnen und etwas Schönes zu erschaffen. Honey behauptet, die Kunst habe ihr das Leben gerettet. Ich würde das Gleiche von mir behaupten. 
Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Ich bin in einer Arbeiterfamilie in New Jersey aufgewachsen und einige Mitglieder meiner Familie arbeiteten der Mafia auf niedriger Ebene zu. Diesen Roman zu schreiben war für mich keine Frage der Recherche. Ich lebte in einer italienisch-amerikanischen Gemeinde in New Jersey und war von Menschen umgeben, die in dieser Welt verkehrten; daher basiert mein Porträt dieses Milieus auf persönlichen Erfahrungen. 
Und dann: die prägendsten Lektionen in Honeys Mafia-Erziehung waren die, die sie als Kind über Loyalität und Schweigen gelernt hat. Honey hat ihr ganzes Leben lang einige schreckliche Geheimnisse mit sich herumgetragen, und ein wichtiger Teil ihrer Reise ist ihr Versuch, endlich darüber zu sprechen. Wie sie im Roman sagt: „Manche Geschichten waren zu schrecklich, als dass man sie sich hätte in Erinnerung rufen, geschweige denn über sie reden können. Es gab ein Märchen, das ihre Mutter ihr immer erzählt hatte. Es handelte von einem Mädchen, dessen Lippen mit schwarzem Garn zugenäht worden waren.“


Auch Honey selbst hat schreckliche Dinge getan – wie haben diese Erfahrungen ihren Charakter geprägt?

Honey hat offensichtlich große Schuldgefühle wegen einiger Dinge, die sie getan hat. Und sie ist unglaublich wütend wegen der schrecklichen Dinge, die ihr angetan wurden. Eine weitere Parallele zwischen Honey und mir: dass wir durch verschiedene spirituelle Übungen versucht haben, unseren Zorn über die Vergangenheit zu überwinden und Gelassenheit und Mitgefühl zu finden.  Im Roman glaubt Honey, dass sie „alles geklärt“ habe – doch als sie nach vielen Jahren nach Hause kommt, um ihre Familie zu besuchen, und sieht, wie viel Brutalität geblieben ist, wird ihr klar, dass sie noch immer wütend ist.  Honeys Herausforderung besteht darin, ob sie vergeben und vergessen oder endlich das Wort ergreifen und die Faust heben soll. Mein Roman erzählt von den Grenzen des Mitgefühls in einer Welt außergewöhnlicher Gewalt. In diesem Buch, wie in der ganzen Welt, sind die Tyrannen zurück.


Lieben Sie die „Sopranos“?

Natürlich tue ich das. Ich bin in diesem Teil von New Jersey aufgewachsen.  Ich kenne diese Welt sehr gut.  Dennoch muss ich mich manchmal abwenden, wenn ich „Die Sopranos“ schaue.  Die Gewalt geht mir oft zu weit.


Sie sagen, dass Sie diese Geschichte lange in sich getragen haben. Was hat es schwierig gemacht, sie zu Papier zu bringen? Das Schreiben dieses Romans bedeutete für Sie eine „Zusammenarbeit mit den Toten“. Er verdankt den Frauen in Ihrer Familie viel. Waren sie Ihre Vorbilder für Honey?

Obwohl Honey kein Porträt einer bestimmten Frau in meiner Familie ist, ist sie definitiv vom Geist einiger Frauen in meinem Leben inspiriert. Ich habe den Roman während der Pandemie zu Ende geschrieben, während der mehrere ältere Frauen aus meiner Familie starben. 
Wie viele Menschen fühlte ich mich während der Pandemiejahre oft nostalgisch. Ich denke, die Welt hat sich in den letzten Jahren sehr verändert, und viele Menschen, die ich kenne, mich eingeschlossen, haben das Gefühl, dass es da diese alte Welt gibt, die nicht mehr existiert, und wir sehnen uns danach – ich denke, dies ist der Grund, warum „Honey“ zu einer Geschichte über das Nachhausekommen wurde.
Die Figur der Honey ist fabelhaft für mich – ein Vorbild dafür, wie man mit Vitalität und Anmut altert.  Wir leben in einer altersfeindlichen Gesellschaft und es hat mich fasziniert, einen älteren Menschen darzustellen, der fast wie eine Art Superheld agiert. In vielerlei Hinsicht schenke ich den Arbeiterfrauen meiner Familie durch Honey das Leben, das sie aufgrund ihrer mangelnden Bildung und ihres sozialen Status nie hätten leben können.


Chi si volta, e chi si gira, sempre a casa va finire. Wer sich zweimal umdreht, landet wieder zu Hause. Was bedeutet Familie für Sie?

Ich bin in New Jersey aufgewachsen, aber als Romanautor habe ich viele Jahre lang nicht über den Ort geschrieben. Jetzt, wo ich älter bin und mehr Abstand zu meiner Familie und meiner Vergangenheit habe, habe ich das Gefühl, dass ich endlich genug verstehe, um diese Welt in literarischer Form darzustellen. Ich erinnere mich, dass Rilke einmal romantisch gesagt hat, dass es nicht ausreicht, etwas zu durchleben, um darüber schreiben zu können. Er schlug vor, dass man Dinge vergessen muss – und dann die Geduld haben muss, auf die Rückkehr der Erinnerungen zu warten, und dass man sie nur dann in eine Geschichte oder ein Gedicht verwandeln kann, wenn diese Erinnerungen unerwartet aus dem tiefsten Inneren auftauchen. Meiner eigenen Erfahrung nach ist daran etwas Wahres. 
Letztendlich ist es finde ich schwierig, einen Roman zu schreiben, in dem es nicht um eine Familie geht, egal ob es sich um eine biologische Familie oder eine Wahlfamilie handelt. Mein Roman „Honey“ geht diesen beiden Ideen nach und am Ende des Buches hat Honey sich eine völlig neue Familie aufgebaut – keine Kleinigkeit für eine Frau in ihren Achtzigern. 


Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch mit Victor Lodato führte Susanne Krones, Programmleiterin C.H.Beck Literatur.